Gedenktag der Befreiung von Auschwitz: Gedenkstunde am Löwenbrunnen
Trotz Mund-Nasen-Schutz herrschte beinahe Normalität an der Kölner Kindergedenkstätte Löwenbrunnen. Zumindest könne man sich Auge in Auge gegenüberstehen, hieß Pfarrerin Ulrike Gebhardt am Gedenktag der Befreiung von Auschwitz verschiedene Generationen zur alljährlichen Gedenkstunde willkommen. Ihr Dank galt den Ausrichtenden der Veranstaltung, der Synagogen-Gemeinde Köln, dem Katholischen Stadtdekanat und Evangelischen Kirchenverband Köln und Region in Verbindung mit dem Arbeitskreis „Lern- und Gedenkort Jawne“. Die regelmäßige Teilnahme von Stadtsuperintendent Bernhard Seiger und Stadtdechant Monsignore Robert Kleine bezeichnete Gebhardt als ein starkes ökumenisches Zeichen. Sie dankte der Stadtgesellschaft, das sie sich dieses besonderen Ortes würdig erweise. Und sie stellte fest, dass dieser Ort tatsächlich ein Geschenk für die Stadt sei.
Mit der von Dieter und Irene Corbach initiierten Gedenkstätte auf dem Erich-Klibansky-Platz an der Helenenstraße wird namentlich der über 1.100 deportierten und ermordeten jüdischen Kinder und Jugendlichen aus Köln und Umgebung gedacht. Der achteckige Brunnen steht in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Areal des einstigen jüdischen Reform-Realgymnasium Jawne und der Synagoge der orthodoxen Gemeinde in Köln. Dort befand sich ein Zentrum jüdischen Lebens und Lernens.
„Es ist gut, dass wir hier sind, am Löwenbrunnen.“
„Wir sind hier an einem Ort, an dem eine jüdische Schule stand“, begrüßte Stadtsuperintendent Bernhard Seiger. Das Wichtigste sei, „dass ihr hier seid, dass ihr etwas zu sagen habt“, wandte er sich dankbar und herzlich an die anwesenden Schülerinnen und Schüler. Sie fragten und forschten danach, was junge Menschen im Nationalsozialismus erlebt hätten. Wir seien hier, um uns zu erinnern an Unrecht, dass sich nie wiederholen dürfe. Wir seien hier, um zu lernen. „Wir Erwachsenen lernen heute von euch. Wir sehen mit euren Augen, wie ihr davon erzählt, was ihr entdeckt und gefunden habt.“ In Geschichtsbüchern zu lesen und Bilder zu betrachten, sei das eine. „Das von euch ausgesprochen zu hören, was junge Menschen erlebt haben, die 1941/42 so alt waren wir ihr jetzt, was sie ertragen mussten, das lässt uns spüren, um was es geht.“
Seiger erinnerte an die Berliner „Wannseekonferenz“ vor 80 Jahren. Es lasse einen schaudern, wie kalt und berechnend der Mord an Millionen europäischen Jüdinnen und Juden auch verwaltungsmäßig geplant und umgesetzt worden sei – ebenso hier in Köln. Geschichte passiere an konkreten Orten, stellte Seiger fest. Wir könnten lernen über Täter, über Opfer, auch über Zuschauende, die gewusst und nicht eingegriffen hätten. „Wir können darüber nachdenken, welche Handlungsmöglichkeiten Menschen hatten und haben. Wir lernen Wachsamkeit.“ Das Lernen helfe, auch auf Schulhöfen mit Bedrohungen und Parolen, die es leider auch heute gebe, umzugehen und gegen Antisemitismus entschlossen vorzugehen.
Seiger erinnerte an die Mitmachausstellung „Let’s meet“. Das Erzbistum Köln, der Evangelische Kirchenverband und das Jugendzentrum Jachad der Synagogen-Gemeinde Köln haben sie im letzten Herbst in der Synagoge in der Roonstraße organisiert. „Es ging dort um Erfahrungen von Diskriminierung, um Antisemitismus, um Essen, Kultur und Religion“, so Seiger. Zahlreiche Schülergruppen hätten dort erlebt – wie wir heute hier –, das Erzählen helfe, klarer zu sehen. Es helfe zu spüren was wichtig sei und es helfe wachsam zu sein.
Wichtig, auch das könnten wir an diesem Gedenkort spüren, seien Schutz und Respekt, so der Pfarrer. „Die jüdische Schule, die hier stand, bot den jüdischen Schülerinnen und Schülern eine Weile Sicherheit. Dann schlug das Regime brutal zu. Zum Glück konnten viele Schülerinnen und Schüler in Sicherheit gebracht werden.“ Seiger dankte den Lehrerinnen, Lehrern und den Mitarbeitenden im Schulreferat, die mit Schülerinnen und Schülern zu diesen Themen gemeinsam forschten. „Solche Lernwege zu gehen, ist ein Fortschritt in der politischen Kultur und bringt uns alle weiter.“
„Erinnern und Gedenken dürfen kein Ende haben“
Bürgermeister Andreas Wolter (Grüne) überbrachte in seiner Ansprache für die Stadt Köln auch den Gruß von Oberbürgermeisterin Henriette Reker. „Das ist für uns ein sehr wichtiger Tag. Erinnern und Gedenken dürfen kein Ende haben“, so Wolter. Die Vernichtung der Juden und Jüdinnen sei vom NS-Regime schon sehr früh entschieden worden sei, stellte er fest. „Ein gesunder Verstand kann das nicht wirklich erfassen.“ Wenn man sich mit der Jawne befasse, mit dem Schicksal der Schülerinnen und Schüler, dann werde das Unfassbare greifbarer. Wolter erinnerte an den überlebenden Schüler Kurt Marx, den er habe kennenlernen dürfen. Zuletzt habe Marx auf einen Social-Media-Post des joggenden Bürgermeisters mit der Erinnerung an eigene sportliche Aktivitäten als Heranwachsender reagiert. Menschen wie Marx hätten ein normales Leben geführt, aus dem blanker Hass und Terror sie herausgerissen habe. Bei Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus müssten wir Haltung zeigen, dürften wir nicht wegschauen, forderte Wolter.
Dr. Rainer Lemaire, Schulreferent und Mitglied des „Lern- und Gedenkortes Jawne“, leitete zu den Beiträgen der Schülerinnen und Schüler über. Eine Gruppe des Kölner Schiller-Gymnasiums hatte am Vortag den Lernort besucht und sich mit der Biografie von Manfred Simon befasst. Nun berichteten sie einfühlsam aus dem Leben des 1928 geborenen und bald nach der Pogromnacht 1938 in die Niederlande geflohenen und 1939 in die USA emigrierten Metzgersohnes. In der Jawne sei er vor kritischen Äußerungen gewarnt worden: „Alles andere ist besser als das du deinen Mund aufmachst.“ Und er habe sich sehr geärgert über einige Pädagogen: „Reicht es nicht, dass uns außerhalb der Schule die Hitler-Jugend verprügelt? Jetzt wollen mich meine eigenen Lehrer auch noch verprügeln.“ Als er am Morgen des 10. November 1938 mit der Bahn durch Köln gefahren sei, seien ihm die Scherben der zertrümmerten Schaufenster jüdischer Geschäfte aufgefallen, so eine Gymnasiastin. Dass sich Gewalt und Hass Bahn gebrochen hatten, habe Simon schließlich seine brennende Schule verdeutlicht, so eine Schülerin. „Das zeigte ihm, wie ernst es ist.“ In der Pogromnacht sei ihm mit fast elf Jahren die Kindheit genommen worden. Abschließend erklang die Stimme von Simon. In einem 2014 in englischer Sprache geführten Interview erinnerte er sich etwa an damalige Freunde, die vom einen auf den anderen Oktobertag 1938 verschwunden waren, weil das Regime sie nach Polen abgeschoben hatte.
Elf Oberstufenschülerinnen und Schüler der Integrierten Gesamtschule Paffrath in Bergisch Gladbach referierten, was sie im Workshop zuvor über die Geschichte der Jawne recherchieren konnten. Sie schilderten damalige Erfahrungen von Antisemitismus auf dem Schulweg. Sie führten aus zu einer in der jüdischen Presse gelobten Theateraufführung zum Purimfest in der Jawne. „Fußball war unsere Sache“, zitierte ein Schüler Henry Gruen. Der Jawne-Schüler Heinz Grünebaum konnte nach England fliehen, kam später in die USA und kehrte in den 70er Jahren nach Deutschland zurück. „Ich habe dieses Zitat ausgewählt, weil es ein Stück Normalität zeigt, das abseits der Bedrohung in gewisser Weise zeigt, dass Schule auch ein Zufluchtsort war, der ein bisschen Geborgenheit gegeben hat.“ „Wir gedenken heute auch der Schülerinnen und Schüler, für die die Jawne nach 1933 der letzte Zufluchtsort war, da es ihnen nicht mehr erlaubt war, staatliche Schulen zu besuchen“, betonte eine der Vortragenden. Das habe dazu geführt, dass jüdische Schülerinnen und Schüler auch aus Aachen, Bonn, Dortmund, Duisburg Wuppertal und vielen anderen Orten zur Jawne nach Köln gemusst hätten, ergänzte ein Mitschüler.
„Wie gut, dass wir hier stehen können“
„Ich bin begeistert“, sprach Rabbiner Yechiel Brukner von der Synagogen-Gemeinde Köln den Schülerinnen und Schüler seine große Bewunderung aus. „Was ihr macht ist absolut nicht selbstverständlich.“ Er wolle sie nicht nur loben, sondern ihnen gleichzeitig ans Herz legen, dass sie damit eine gewisse Bürde auf sich nehmen würden. Ihre Verantwortung bestehe darin, dass sie „diese Fackel des Gedenkens, der Erinnerung, auch des Wissens, an die anderen weitergeben, sie anstecken“. Sie seien sogenannte Multiplikatoren. „Und das solltet ihr auch sein in der Gesellschaft, in der ihr lebt.“ Denn nur so sei es möglich, den wiederaufkommenden, völlig unverständlichen, irrationalen, beschämenden Antisemitismus in diesem Land nach der Shoa, nach dem Holocaust wieder einzudämmen. „Nur ihr könnt das machen, denn der Antisemitismus befindet sich nicht nur an der Peripherie der Gesellschaft, wie wir inzwischen schon wissen, sondern auch in der Mitte, in allen Schichten und in verschiedenen Formen. Ihr seid die Front gegen dieses fürchterliche Phänomen.“
In einem zweiten Teil ging Brukner auf seinen aus Polen stammenden Vater ein. Als einziger seiner Familie habe dieser den Holocaust überlebt. Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald sei sein Vater mit einem Kindertransport in die Schweiz gekommen. Dort ist auch der Rabbiner aufgewachsen. „Inzwischen leben wir in Israel“, so Brukner. „Dort ist unser Paradies, sind unsere Kinder und Enkelkinder.“ Wie präsent die Shoa für die Familie sei, vermittelte Brukner am Beispiel des Buches seiner Schwägerin. Diese habe darin alle gesammelten Fakten über seinen Vater aufgeschrieben. „Das Buch haben wir den Kindern und Enkeln gegeben, damit die Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Damit sie weiter lebendig von Generation zu Generation geht.“
Drittens kam Brukner darauf zu sprechen, dass es Menschen gebe, die zwischen dem Holocaust und der Gründung des israelischen Staates 1948 eine Verbindung herstellen wollten. „Es gibt welche, die sagen ´Der Staat Israel ist nur wegen der Shoa entstanden´.“ Gemeint sei: Wäre der Holocaust nicht gewesen, dann hätte es in der UN 1947 für den Teilungsplan für Palästina bestimmt keine Mehrheit für die Juden gegeben. Jedoch berge diese Betrachtung eine Gefahr, so Brukner. „Es gibt welche, die sagen, wenn die Juden ihren Staat bekommen haben, weil sie gequält wurden, warum quälen denn heute die Juden andere, um ihren Staat zu erhalten, nämlich die Palästinenser?“ Diesen Vergleich bezeichnete Brukner als eine absolute Katastrophe, eine Verzerrung der Dimensionen und Relationen. „Zwei Dinge werden miteinander verglichen, die nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben.“ Stattdessen möchte Brukner den Satz ändern und die These umschreiben: „Nicht wegen der Shoa ist der Staat Israel entstanden, sondern der Staat Israel ist entstanden trotz der Shoa.“ Hitler habe nicht nur das jüdische Volk vernichten, sondern überhaupt die Existenz eines Staates verhindern wollen, in dem Juden hätten leben können.
„Wie gut, dass wir hier stehen können“, schloss der Rabbiner. „Ich als Bürger des Staates Israel, ich als Sohn eines Überlebenden des Holocausts, mit Ihnen zusammen. Menschen mit Zivilcourage, Menschen mit Engagement, Menschen mit Menschlichkeit. Ich danke Euch für alles was Ihr macht und für alles was Ihr seid.“ Sodann trug in beeindruckender Weise Mordechay Tauber, Kantor der Synagogen-Gemeinde Köln, das Gebets El Male Rachamim für die Opfer der Shoa vor.
„Wir müssen uns erinnern an das Morden“
„Wir müssen uns erinnern an das Morden, an das Schweigen, an die Schuld. Erinnern an die Deportierten, an die Ermordeten – ihrer Habe, ihrer Würde, ihres Lebens beraubt“, betete schließlich Monsignore Kleine. Auch erinnern an die Überlebenden, verdammt dazu das Grauen zu bezeugen. Wir müssten uns erinnern an die Kinder, an die Jugendlichen, an die Erwachsenen, an die der Vernichtung Entronnenen, gekennzeichnet auf den Armen, gequält in ihren Träumen. „Du Gott, Wächter der Erinnerung, steh´ uns bei, damit wir dem Vergessen widerstehen (…) Gib uns immer wieder die Worte in den Mund, der Menschenverachtung zu widersprechen.“
Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich
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