86. Jahrestag der Novemberpogrome 1938: Gedenkfeier mit Zeitzeugin Renate Friedländer an der Kölner Kindergedenkstätte Löwenbrunnen
86 Jahre nach den Novemberpogromen hat Dr. Rainer Lemaire namens des Arbeitskreises Lern- und Gedenkort Jawne zu einer Gedenkstunde an der Kindergedenkstätte Löwenbrunnen begrüßt. Dort wird erinnert an mehr als 1.100 jüdische Kinder und Jugendliche aus Köln und Umgebung, die während des Nationalsozialismus deportiert und ermordet wurden. Der achteckige Brunnen steht in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Areal des einstigen jüdischen Reform-Realgymnasium Jawne. Der evangelische Schulreferent hieß auf dem Erich-Klibansky-Platz auch Schülerinnen und Schüler des Erzbischöflichen Irmgardis-Gymnasiums und Schiller-Gymnasiums willkommen. Sie setzten die bedeutsame Tradition fort, in Lernort-Workshops beziehungsweise im Schulunterricht erarbeitete Beiträge über Biografien ermordeter oder überlebender jüdischer Kinder und Jugendlicher vorzutragen. Lemaire nannte es eine besondere Freude und Ehre, die 95-jährige gebürtige Berlinerin und Wahlkölnerin Renate Friedländer als Zeitzeugin der Kindertransporte begrüßen zu dürfen.
Man komme hier am Vortag des 9. November zusammen, um die Ereignisse in 1938 nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, so Lemaire. Damit wir schauten, „was an diesem Ort, an dem sich die Jawne und andere jüdische Einrichtungen befunden haben, ganz konkret passiert ist“. Zugleich gehe es – mit Blick auf das Geschehene – darum, zu fragen, wie friedlich oder nicht friedlich uns das Zusammenleben in unserer Stadt gegenwärtig gelinge. Dabei sei mitzubedenken, dass Jüdinnen und Juden in Köln „auch heute von Feindschaft betroffen sind“. Lemaire dankte den Anwesenden, dass sie, parallel zu einer Gedenkstunde in der Synagoge Roonstraße, hier und heute ein Zeichen gegen diese Feindschaft setzten.
Zentrale Bedeutung für die Erinnerungskultur
Bürgermeisterin Brigitta von Bülow (Grüne) überbrachte Grüße von Rat und Verwaltung der Stadt Köln sowie Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Froh zeigte sich die Repräsentantin über die Existenz des an Aktivitäten reichen Lern- und Gedenkortes Jawne. Wie dem städtischen NS-Dokumentationszentrum attestierte sie ihm eine zentrale Bedeutung für die Erinnerungskultur. „Solche Orte erwecken Geschichte zum Leben und ermöglichen direkte Begegnungen“, betonte sie die hervorragende Arbeit der dort ehrenamtlichen Tätigen.
Die Geschehnisse in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hätten einen der Anfangspunkte der systematischen Verfolgung und Ermordung europäischer Juden durch die Nationalsozialisten markiert, so von Bülow. Sie ging ein auf die Ermordung und Inhaftierung jüdischer Menschen in den Novemberpogromen. Auf die deutschlandweit 1400 niedergebrannten Synagogen, auf zerstörte, geplünderte Geschäfte und verwüstete Wohnungen jüdischer Inhaber und Bewohner. „Das Ausmaß der Verbrechen, die auf unseren Straßen und Plätzen verübt wurden, bleibt nach wie vor erschütternd. Es geschah auch mitten in Köln, mitten in den Veedeln.“
Die Frage nach dem Warum
Jüdinnen und Juden hierzulande hätten erfahren müssen, dass „viele Menschen nichts unternahmen, um ihre Mitbürger zu schützen und grundlegende ethische wie moralische Werte völlig verloren“. Erich Klibansky, der letzte Direktor der Jawne, habe es 1939 geschafft, über 130 Schülerinnen und Schüler mittels Kindertransporten nach Großbritannien in Sicherheit zu bringen. Es sei von großer Bedeutung für uns alle, so die Bürgermeisterin, „dass wir die schrecklichen Ereignisse und Verbrechen gegen unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht in Vergessenheit geraten lassen und stets die Frage nach dem Warum stellen“. Laut Jahresbericht 2023 der Meldestelle für antisemitische Vorfälle im städtischen NS-DOK hätten sich die dokumentierten antisemitischen Vorfälle im Vergleich zu 2022 nicht nur verdoppelt. „Sie waren auch deutlich gewalttätiger.“ Dies zeige, wie Antisemitismus „anwächst auch hier in Köln“.
Besonders vor dem Hintergrund der zunehmend wieder offen agierenden rechtsradikalen und auch antisemitischen Strömungen setzten Schülerinnen und Schüler mit ihrer aktiven Teilnahme und Beschäftigung mit dem Thema ein wichtiges Zeichen in unserer Stadtgesellschaft, dankte von Bülow. Damals hätten sich zu wenige Menschen für ihre verfolgten Nachbarn, Freunde und Mitschüler eingesetzt, warnte sie vor einer Wiederholung dieses kollektiven Wegsehens. „Stattdessen müssen wir alle, egal wo wir stehen, egal wer wir sind, mutig gegen jede Form von Antisemitismus, Rassismus und Menschenverachtung eintreten“, appellierte die Bürgermeisterin. „Eintreten gegen Hass und Gewalt. Eintreten für gesellschaftliche Vielfalt, unsere Demokratie und die Menschenrechte.“ Das sei eine riesige Aufgabe für uns alle. „Aber sie ist absolut wichtig, denn ´Nie wieder´ ist jetzt.“
Biografie des 1923 geborenen Heinz Grünebaum
Schülerinnen und Schüler des 10. Jahrgangs des Schiller-Gymnasiums in Köln-Sülz hatten sich unmittelbar vor der Gedenkstunde am Lernort unter anderem mit der Geschichte der Jawne von deren Gründung 1919 bis zur Schließung 1942 befasst. Die Ergebnisse flossen ebenso in ihren mehrteiligen Vortrag ein, wie die Beschäftigung mit der Biografie des 1923 geborenen Heinz Grünebaum. Der Schüler erlebte den Pogrom im Stadtteil Ehrenfeld, gelangte 1939 mit einem Notenbuch von Bach als einzig erhaltenem Erinnerungsstück mit einem Kindertransport nach England, später in die USA. 1971 kehrte Henry Gruen ins Rheinland zurück. Bedrückend gestaltete sich ebenso die Aufzählung der die Juden betreffenden Verbote seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Anhand eines beispielhaften „Tagesablaufs der Jawne-Schüler:innen“ verdeutlichten die Referierenden, wie das Leben der Betroffenen durch die Anordnungen systematisch immer weiter eingeschränkt wurde.
Der ehemalige Jawne-Schüler Manfred Simon
Schüler und Schülerinnen des Erzbischöflichen Irmgardis-Gymnasiums in Köln-Bayenthal trugen Ergebnisse ihrer Recherche zur Biografie von Manfred Simon vor. Der ehemalige Jawne-Schüler erblickte am 8. Februar 1928 in Köln das Licht der Welt. Nach den Novemberpogromen konnte er mit seiner Familie 1939 per Schiff über England in die USA fliehen, wo er noch heute lebt. In ihrem Beitrag bezogen sich die Zehntklässler auf einen sehr eindrücklichen Erfahrungsbericht von Simon. So habe er die Reise nach Übersee als angsteinflößend und lebensverändernd beschrieben. Zuvor habe der jüdische Junge früh erfahren müssen, dass er „nicht mehr als Teil der deutschen Gesellschaft gesehen wurde“. In einer Tonaufnahme waren Simons eindrückliche Erinnerungen an den Morgen des 10. November zu vernehmen.
„Gegenseitiges Verständnis und Solidarität“
Da antisemitische Stimmen wieder lauter geworden seien, stellte ein Schüler fest, sei es heute so wichtig wie noch nie, sich an Schicksale wie das von Manfred Simon zu erinnern. „Wir möchten uns gegen antisemitische Stimmen stellen, damit sich die Ereignisse der Novemberpogrome nie wiederholen.“ Antisemitismus habe in einer offenen und gerechten Gesellschaft keinen Platz, „Jede Form von Hass, Vorurteil oder Diskriminierung gegen jüdische Menschen verletzt die Werte von Respekt, Toleranz und Menschlichkeit, die für unser Zusammenleben unerlässlich sind.“ Wir alle trügen die Verantwortung, antisemitische Einstellungen zu erkennen, zu hinterfragen und ihnen entschieden entgegenzutreten, so der Gymnasiast. „Nur durch gegenseitiges Verständnis und Solidarität können wir eine Gesellschaft aufbauen, in der jeder Mensch sicher und respektiert lebt.“
Zeitzeugin Renate Friedländer: Synagoge stand in Flammen
„Ich war neun Jahre alt. Ich entsinne mich, wie eine Synagoge, an der ich vorbeiging, in Flammen stand. Meine Tante holte mich von der Schule ab, weil sie nicht wollte, dass ich alleine nach Hause ging“, richtete sich Renate Friedländer an die Umstehenden. „Es war eben eine beängstigende Zeit,“ so die 95-Jährige. Als Kind habe sie die ganze Sache nicht wirklich verstanden. Aber sie dachte, „dass irgendetwas mit uns als Juden nicht stimmen konnte“. Sie sei sehr froh, „dass ich jetzt im Alter doch glücklich bin, dass ich jüdisch bin“, sprach sie von einem uralten Volk mit einer langen Geschichte. Von dieser wisse sie „viel zu wenig, weil ich inzwischen christlich getauft wurde (…) Aber ich habe nie vergessen, dass ich jüdisch bin und das auch der Gründer meiner heutigen Religion ein Jude war. Jesus war ein Jude, und ist als Jude auch später gestorben.“
Friedländer erinnerte, wie sie mit ihrer vierjährigen Schwester Susanne mit einem Kindertransport nach England gefahren sei. Ihre Mutter habe beide nach Hamburg auf „ein riesiges Schiff“ gebracht. In Southampton seien sie vom ein Jahr zuvor ausgewanderten Vater, Ingenieur bei Siemens, abgeholt worden. „Siemens hat ihn sehr anständig behandelt. Ich finde, dass muss auch gesagt werden.“ Auf die Frage einer Schülerin nach ihrer Eingewöhnung ging Friedländer auf die anfänglichen Sprachschwierigkeiten ein. „Aber ich besinne mich nicht mehr, wie ich Englisch gelernt habe. Es ist irgendwie gekommen.“
Zuvor in Berlin besuchte Friedländer eine Rudolf-Steiner-Schule. Deren Lehrer seien durchweg nicht antisemitisch gewesen, berichtete die Seniorin. „Sie haben uns Juden genauso angenommen wie die anderen Schüler“, denke sie dankbar an diese Schulzeit zurück. Noch heute verfüge sie teilweise über den damals erlernten bestimmten Malstil, so die Künstlerin. „Das war das Schraffieren der Farben. Man hat nicht einfach einen blauen Himmel gemalt und grüne Erde, sondern man hat den ganzen Himmel blau schraffiert und die Erde mit dem Himmel grün. Es war eine ganz andere Malweise.“ Als spätere Kunsterzieherin habe sie ihren Schülern dieselbe Art von Schattieren beigebracht. „So dass sie das Bild als Farbe betrachteten und nicht lauter Umrisse. Umrisse sind wie eine Gefängnismauer für die Farbe. Die Farbe will fließen, die Farbe will sich mischen mit anderen Farben. Und das war das Große, was ich gelernt habe in der Rudolf-Steiner-Schule“, schloss Friedländer. Lemaire dankte ihr ausdrücklich für das Teilen ihrer persönlichen Erfahrungen.
Ausstellung „´Mein Leben muss irgendwo eine Wurzel haben.´ Renate Friedländer – Kindertransportkind und Künstlerin“
Die Ausstellung „´Mein Leben muss irgendwo eine Wurzel haben.´ Renate Friedländer – Kindertransportkind und Künstlerin“ im Lern- und Gedenkort Jawne, Albertusstraße 26/Erich-Klibanksky-Platz, ist bei freiem Eintritt geöffnet bis einschließlich 2. Februar 2025: dienstags und mittwochs von 11 bis 14, donnerstags von 11 bis 14 und 16 bis 19 sowie sonntags von 12 bis 16 Uhr.
Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich
Der Beitrag 86. Jahrestag der Novemberpogrome 1938: Gedenkfeier mit Zeitzeugin Renate Friedländer an der Kölner Kindergedenkstätte Löwenbrunnen erschien zuerst auf Evangelischer Kirchenverband Köln und Region.